Das Radlseehaus – Zur Geschichte einer Schutzhütte in den Sarntaler Alpen

Hoch über der Stadt Brixen, am östlichen Ausläufer der Sarntaler Alpen, liegt am Fuße der Königsangerspitze eingebettet in eine Mulde der sagenumwobene Radlsee. Nur wenige Schritte weiter steht etwas oberhalb davon das aus Steinen gemauerte Radlseehaus auf 2.284 m über dem Meeresspiegel. Ein Schutzhaus mit einer turbulenten Geschichte.

Der Ausblick vom Radlseehaus sucht seinesgleichen

Einladend ist die Lage des Raldsees, lohnend der Aufstieg, einmalig der Ausblick auf die gegenüberliegende Talseite: auf die Plose und den Peitlerkofel, auf die Villnösser Geisler, auf Lang- und Plattkofel und den Schlern sowie die dahinter liegenden Gletscherspitzen. An dieser Stelle musste ein Schutzhaus gebaut werden.

„An dem wildromantischen Radlsee…“
Die Anfänge des Radlseehauses (1911–1918)

„Das Radlseehaus, eine Schöpfung des Herrn A. Mayr in Brixen, ist ein sehr gefälliges Gebäude […]. Es enthält im Erdgeschoß ein Gastzimmer von 45 Geviertmeter Bodenfläche, eine Führerstube von 16 Geviertmeter, eine Küche und ein Gesindezimmer; im ersten Stock befinden sich 7 Zimmer mit je 2 Betten, im Giebel 2 Zimmer mit je 2 Betten und ein größerer Schlafraum mit 20 Matratzenlagern. […] Das Haus ist sehr gut bewirtschaftet und überaus wohnlich und anheimelnd. Vor dem Hause befindet sich eine Terrasse mit Tischen.“ So beschrieb Karl Felix Wolff das neu erbaute Radlseehaus in seinem Wanderführer von 1912.

Anton Mayr (1879–1918), Tapezierermeister aus Brixen, hatte 1911 mit dem Bau begonnen. Zusammen mit seiner Frau Maria geb. Unterthiner (1880–unbekannt), die acht Jahre lang das Rittner-Horn-Haus bewirtschaftet hatte und somit über die notwendige Erfahrung verfügte, wollte er das private Schutzhaus führen.

Bereits im Sommer 1912 war der aus Steinen gemauerte Bau so weit gediehen, dass er bewirtschaftet werden konnte. Die Innsbrucker Nachrichten kündigten im Juli 1912 eine baldige Eröffnung des Schutzhauses „an dem wildromantischen Radlsee“ an, und sogar der Pester Lloyd fieberte der Inbetriebnahme des „herrlichen Stützpunkt[es] in der großartigen Berglandschaft der östlichen Sarntaler Alpen“ entgegen.

Im Frühling 1913 öffneten die Wirtsleute trotz des Schneefalls bereits für die Osterfeiertage. Ostern fiel auf den besonders frühen Termin des 23. März. Der Weg zum Schutzhaus wurde mit einem Schneepflug gangbar gemacht. Am Abend des Karsamstags war ein Feuerwerk geplant. Knapp zwei Wochen später war das Radlseehaus fast schneefrei, und Temperaturen von 21° C in der Sonne lockten zahlreiche Wanderer in die Höhe, die sich, wie die Brixener Chronik berichtete, über den „Fortschritt der Bauarbeiten und die hübsche Inneneinrichtung der Hütte“ freuten.

Die feierliche Eröffnung des neu erbauten Schutzhauses fand im Oktober 1913 statt. Am 5. Oktober segnete Pater Rupert Außerer aus Brixen das Haus. Da es an diesem Sonntag in Strömen regnete, wurde die weltliche Eröffnungsfeier kurzfristig auf den darauffolgenden Sonntag verschoben. Anlässlich der Eröffnung brachte die Brixener Chronik eine Beschreibung des Baus: In der mit Zirbenholz vertäfelten Gaststube hing ein Marienbild des in Brixen lebenden Kunstmalers Franz Ferdinand Rizzi (1868–1952), das jedoch für die Kapelle bestimmt war. Das „Herrenstübel“, mit dem wohl die Stube der Bergführer gemeint ist, zierten Landschaftsmotive des Malers Kralinger. Auch die Küche war gut ausgestattet.

Aussicht vom Radlseehaus
Foto: Johanna Bampi

Das Radlseehaus fand von Anfang an regen Zuspruch bei den Bergfreunden. Auf markierten Wegen erreichten Wanderer das Schutzhaus damals in viereinhalb bis sechs Stunden von Brixen, Vahrn und Klausen oder von der Haltestelle Villnöß aus. Bereits vor dem Bau des Schutzhauses hatte es markierte Wanderwege zur Königsangerspitze und zum Radlsee gegeben, beispielsweise von Bad Schalders steil bergauf durch das Arzvenntal, von Brixen über Tils und über den Feichterhof oder von Verdings aus. 1913 legte Benjamin Valazza, Bergführer und Pächter der Klausner Hütte, den Weg von der Klausner Hütte zum Radlseehaus an, der „mit dem brillanten Blick auf die Dolomiten und die Gletscherberge [zu den] genußreichsten Touren in den Alpenregionen“ zählte.

Dennoch waren die Sarntaler Alpen damals im Vergleich zu anderen Berggebieten Tirols kaum erschlossen. Das neue Radlseehaus war somit nicht nur ein neues Ausflugsziel, sondern entwickelte sich auch zu einem wichtigen Stützpunkt für das beliebte Wandern von Hütte zu Hütte. Neben der benachbarten Klausner Hütte gab es in der weiteren Umgebung eine einfache Hütte beim Latzfonser Kreuz und das Rittner-Horn-Haus; die Flaggerschartenhütte sollte 1914 eröffnet werden.

Nach den Angaben im Wanderführer von K.F. Wolff waren die Klausner Hütte in zwei, das Latzfonser Kreuz in zweieinhalb, die Flaggerschartenhütte in vier und das Rittner-Horn-Haus in sechs Stunden zu erreichen. Der Aufstieg zur Königsangerspitze dauerte eine halbe Stunde, der Weg zu den Lorenzispitzen und auf die Kassianspitze eine bzw. drei Stunden. Nach Durnholz war mit viereinhalb Stunden zu rechnen.

Bergfreunde und Alpenvereinsmitglieder entstammten hauptsächlich dem Besitz- und Bildungsbürgertum. Auch Tourismustreibende erkannten das Potential, das die Erschließung der Bergwelt, die vom Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein aktiv betrieben wurde, in sich barg. Den Arbeitern blieben sportliche Sommer- und Winterfreuden in der Bergwelt vorbehalten. Allein der von K.F. Wolff erwähnte Preis für eine Übernachtung im Radlseehaus von 4 Kronen bzw. 2 Kronen für Alpenvereins-Mitglieder wäre kaum bezahlbar gewesen. Ein Dienstmädchen verdiente damals ca. 300 Kronen jährlich, ein Facharbeiter konnte auf bis zu 1.500 Kronen kommen.

Auch für den florierenden Wintersport rund um Brixen war das Radlseehaus von Bedeutung. Es entwickelte sich zu einem beliebten Stützpunkt für Schitourengeher. Wie die benachbarte Klausner Hütte war es im Winter 1913/14 geöffnet. Die Zeitungen berichteten während der Wintermonate immer wieder über die Schneelage, über die Schiverhältnisse auf die Königsanger- und Radlseespitze und die Gangbarkeit der einzelnen Wege. Schlittschuhläufer frönten auf dem zugefrorenen Radlsee ihrem Vergnügen.

Die Sommersaison 1914 begann spätestens am 1. Mai. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 28. Juli 1914 gelangte der Bergtourismus ins Stocken. Nicht nur die Gäste blieben aus, sondern auch Hüttenwirte und Bergführer wurden an die Front gerufen, an Bergtouren war nicht zu denken. Am 31. August 1914 wurde das Radlseehaus geschlossen. Anders als zahlreiche Schutzhütten blieb es während der Kriegsjahre von Plünderungen und kriegsbedingten Zerstörungen weitgehend verschont. Weniger Glück hatte jedoch sein Erbauer und Besitzer Anton Mayr: Er fiel am 24. Oktober 1918 an der Dolomitenfront.

Tritt ein ins Radlseehaus! Sommer 2016
Foto: Johanna Bampi

„… die sich eben nach Licht und Höhensonne sehnen…“
Das Radlseehaus zwischen den Weltkriegen

Maria Mayr, Kriegswitwe, konzentrierte sich in der prekären wirtschaftlichen Situation nach Kriegsende ganz auf die Bewirtschaftung des Radlseehauses. In der ersten Sommersaison 1920 erfreute es sich – so wussten es die Bozner Nachrichten – dank günstigen Wetters und gemäßigter Preise zahlreicher Besucher.

In den 1920er und frühen 1930er Jahren bewirtschaftete Maria Mayr ihr Schutzhaus ausschließlich im Sommer, und zwar meistens von Anfang Juni bis Ende September. Den Gästen standen 18 Betten und ein gemeinsamer Schlafraum für zehn Personen zur Verfügung. Sonntags wurde in der Hauskapelle eine hl. Messe gelesen. Dank der Zweibettzimmer eignete sich das Radlseehaus auch für eine längere Sommerfrische und zur Höhenkur.

An Sommersonntagen schien die Stadt Brixen, wie die Südtiroler Landeszeitung berichtete, menschenleer zu sein, „denn an Bergfreunden zählt unsere Stadt viele Hunderte, die sich eben nach Licht und Höhensonne sehnen.“ Beliebte Wanderziele waren die Plose, das Schalderer Tal, die Fritz-Walde-Hütte (Vorgängerbau der Tiefrastenhütte) und das Radlseehaus.

Blumige Wanderberichte und Kurznotizen über gute und sehr gute Besucherzahlen in den lokalen Zeitungen konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Bergtourismus in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nur langsam erholte und die Gästezahlen bei Weitem nicht an jene der Vorkriegsjahre heranreichten. Vor allem die Gäste aus dem Ausland blieben aus, und die italienischen Bergfreunde konzentrierten sich hauptsächlich auf die Dolomiten. Die Schutzhütten in anderen Bergregionen wurden fast ausschließlich von einheimischen Wanderern besucht.

Zudem waren unmittelbar nach dem Krieg viele Schutzhütten unbenutzbar, zerstört oder blieben über Jahre vom Militär besetzt, jene im Besitz ausländischer Sektionen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins (DuOeAV) waren enteignet worden. Die Südtiroler Sektionen sagten sich, um der drohenden Enteignung der Schutzhäuser zu entgehen, nach und nach vom DuOeAV los und gründeten bis Anfang 1922 ihre eigenständigen lokalen Alpenvereine. Nach der faschistischen Machtübernahme erfolgte im Jahr 1923 die Auflösung sämtlicher alpiner Vereine in Südtirol – mit Ausnahme des Club Alpino Italiano – und die Enteignung der vereinseigenen Schutzhütten. Das Verbot deutscher Ortsnamen und deren Umbenennung in italienische, die ab 1923 erfolgte, betraf auch die Schutzhütten: Das Radlseehaus trug nun den Namen Rifugio Lago Rodella.

Glückliche Kühe
Foto: Johanna Bampi

In diesen Jahren des langsamen Aufschwungs wog ein Einbruch ins Radlseehaus im Winter 1921/22 besonders schwer. Die Diebe entwendeten sämtliche Federbetten und Pölster, Decken und sehr viel Geschirr. Einen zweiten Einbruch gab es im November 1932. Wieder wurden Decken entwendet und im Schutzhaus selbst beträchtlicher Sachschaden angerichtet.

Im August 1926 stellten zwei Burschen aus Brixen einen Rekord auf: Sie erklommen drei Berggipfel an einem Tag und legten dabei im Aufstieg 5.200 m Höhenunterschied zurück. Sie brachen nachts um ein Uhr in Brixen auf, erklommen zunächst die Karspitze, stiegen dann nach Schalders ab und wählten von dort den Weg zum Königsanger. Auf dem Rückweg nach Brixen machten sie auf der Radlseehütte Halt und besuchten um 10 Uhr die dortige Sonntagsmesse. Nach dem Mittagessen in Brixen bestiegen sie am Nachmittag noch die Plose. „Diese Leistung“, schloss die in Wien verlegte Reichspost in ihrer Meldung, „dürfte nicht sobald übertroffen werden.“

In den frühen 1930er Jahren beschränkte sich die Saison zunächst auf die Monate Juni bis September. 1934/35 war das Schutzhaus erstmals seit mehr als zwanzig Jahren auch im Winter geöffnet. Maria Mayr warb im Kleinanzeiger der Dolomiten mit „geheizte[n] Zimmer[n]“ und der „vorzügliche[n] und billige[n] Verpflegung“. Nach wie vor eigneten sich die Almen rund um den See bis hin zur Klausner Hütte vortrefflich für den Schisport.

Die Stimmungen eines Wandertages zum Radlsee im Juni 1936 fing Albuin Mair unter der Eggen in seiner Tourenbeschreibung für das Brixner Heimatbuch ein. Oben auf den Bergen seien alle Menschen freundlicher, ungezwungener. Man spielte und sang, lachte und scherzte und redete von „Olympiameistern und Goldmedaillen, von gelungenen Partien und Unglücksfällen, von Kameraden, die nachkommen werden, und solchen, die nicht dienstfrei bekamen. Alles junge, gesunde, kräftig gezeichnete Gesichter, berg- und wettergewöhnte Gestalten.“

Doch das Jahr 1939, das Europa den Beginn des Zweiten Weltkriegs und Südtirol die so genannte Option, also die Entscheidung zwischen einer Auswanderung ins Deutsche Reich oder dem Verbleib in Italien, brachte, war nicht mehr weit. Maria Mayr, die Radlseewirtin, entschied sich, wie der Großteil der Bevölkerung, im Dezember 1939 für Deutschland und verließ im Herbst 1940 ihre Heimat.

Das Radlseehaus ging in den Besitz der Ente per le Tre Venezie über. Es wurde vernachlässigt und fiel schließlich Brandstiftung zum Opfer. Bei Kriegsende 1945 stand vom einst stattlichen Schutzhaus nur mehr eine karge Ruine.

Blick auf den Radlsee und das gleichnamige Schutzhaus, Sommer 2016
Foto: Johanna Bampi

Zum Weiterlesen

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version meines Aufsatzes zur Geschichte des Radlseehauses (mit Literatur- und Quellenangabe), der 2016 von der Alpenverein-Sektion Brixen herausgegeben wurde. Wie es mit dem Radlseehaus nach dem Zweiten Weltkrieg weiterging, erfährst du im Buch:

Das Radlseehaus, hrsg. vom Alpenverein Südtirol – Sektion Brixen, koordiniert von Dominikus Stockner, mit einem Text von Johanna Bampi, Brixen 2016.


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