„Es war das Paradies…“ Der Historiker Stefan Grus aus Wiesbaden im Interview

Kürzlich hat uns Stefan Grus, Historiker und bei einem der größten deutschen Spitzensportverbände zuständig für Archiv, Bibliothek und Museum, die bekannten vier „KulturSüdtirol-Fragen“ beantwortet. Dabei beweist er auch, das HistorikerInnen – und er im Besonderen – gerade richtig gefragte Leute sind, denn Ihr wisst ja: Geschichte wiederholt sich manchmal doch. Wie leider auch Pandemien, Absagen und Ausfälle von sportlichen Großereignissen. Aber lest am besten selbst…

KulturSüdtirol: Wie erlebst Du die momentane Situation und was hat sich für Dich in den vergangenen Monaten geändert?

Einerseits finde ich die momentane Situation sehr beklemmend. Dass die ganze Menschheit einmal einem solch zerstörerischen Szenario hilflos ausgeliefert sein würde, war vor ein paar Jahrzehnten angesichts des Kalten Krieges noch eine beängstigende Vorstellung, gegen die man sich mit allen (meistens) friedlichen Mitteln wehrte. Ich bin alt genug, um das noch selbst erlebt zu haben.

Andererseits habe ich die Zeit des ersten Lockdowns zwischen März und Mai letzten Jahres als sehr angenehm empfunden. Ich wohne im Herzen von Wiesbaden in einem Altbau im dritten Stock mit einer riesigen Terrasse, von der aus ich bis zum Feldberg gucken kann. Von heute auf morgen fuhr hier kein Auto mehr. Der Frühling kam und es war das Paradies.

Es hört sich zwar hart an, aber die Ruhe, die Entschleunigung allen Lebens, das Verschwinden vieler, die sonst andauernd per E-Mail oder Telefon etwas von mir wollten, habe ich sehr genossen. Heute bedauere ich es fast, diesen Zustand nicht noch mehr ausgekostet zu haben.

Stefan Grus (links).

Denn mittlerweile vermisse ich vieles von dem, dessen Herunterfahren ich beim Ausbruch der Pandemie noch so genossen habe. Wenn wir am Wochenende mit Maske durch die Stadt laufen, sind wir froh, wenn uns jemand einen Kaffee im Plastikbecher to go verkauft. Ich würde gerne mal wieder ins Theater oder ins Kino gehen, ich kann die Pizzakartons und die Kunststoffbehälter unseres Inders, bei dem wir aus Solidarität – und aus Angst, dass er ganz aufgibt – regelmäßig bestellen, nicht mehr sehen. Mir fehlen sogar die in Frankfurt im Fünfminutentakt startenden Flugzeuge, die mich jeden Morgen um 6:00 Uhr geweckt haben.

Was gibt Dir Kraft bzw. was motiviert Dich? Was beschäftigt dich gerade besonders?

Weil ich als Historiker für einen Sportverband arbeite und viel für Sportzeitschriften schreibe, andererseits aber seit einem Jahr kein Wettkampfsport stattfindet, sind viele Seiten für mich frei. Ich kann mich richtig auslassen über ausgefallene oder misslungene Olympische Spiele, wegen Epidemien oder kriegerischen Konflikten verschobene oder beeinträchtigte Weltmeisterschaften und so weiter. Die Menschen schauen gerne auf Parallelen und Beispiele in der Geschichte …
Jedenfalls habe ich selten so viel veröffentlicht, wie in den Monaten der Pandemie, und was das betrifft schäme ich mich fast, von der Pandemie auch noch profitiert zu haben, während viele andere richtig leiden und um ihre Existenzen fürchten müssen.

Ein konkreter Tipp oder eine konkrete Empfehlung für unsere Leserinnen und Leser?

Ich versuche, die äußeren Umstände nicht mein ganzes Leben und meine Stimmung beherrschen zu lassen. Das funktioniert ganz gut, seitdem ich konsequent alle Push-Messages abgestellt habe, kaum noch Nachrichten sehe, immer nur die Zeitung von gestern lese. Das reicht zum Überleben und schafft Distanz.

Wie positiv oder negativ blickst du in die Zukunft?

Ich schaue positiv nach vorne. Der Mensch hat sich schon immer gut angepasst. Meine über 90-jährige Mutter ist zweimal geimpft, meine Frau in ihrer Klinik auch, die Ferienwohnung in Italien haben wir für Juni gebucht und alles andere blende ich aus.

Mehr über Stefan

Seit vielen Jahren hat Stefan Grus sozusagen zwei Schreibtische, die mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt stehen. Da wäre zum einen seine Tätigkeit als Historiker für einen Sportverband in Wiesbaden mit etwa 1,4 Millionen Mitgliedern in 20 Landesverbänden. Da ist zum anderen aber auch das Deutsche Schützenmuseum auf Schloss Callenberg bei Coburg, das er als Leiter betreut: Einerseits eines der neuesten Museen dieser Gegend, andererseits eines, das eine besondere lange Geschichte, nämlich die des Schieß- und Bogensports, anschaulich macht, einordnet und sie sogar selbst erleben lässt. Und das einzigartige Ambiente des herzoglichen Hauses Sachsen-Coburg und Gotha – mit Blick zur Veste und nach Coburg – spricht ohnehin für sich. Sobald es also wieder möglich ist, ein Besuch auf Schloss Callenberg ist sicher eine Empfehlung. Nähere Informationen dazu auf der Internetseite Deutsches Schützenmuseum – Schloss Callenberg